In der letzten Zeit mussten die Gerichte gehäuft über Vollstreckungsschutz gegen die Zwangsräumung infolge Suizidgefahr entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat nun die Voraussetzungen einer „Neubewertung der Sachlage“ i.S.d. § 765a Abs. 4 ZPO konkretisiert.
Sachverhalt
Das Amtsgericht München hat eine 81-jährige Münchnerin zur Räumung ihrer Wohnung verurteilt, die sie mit ihrem Ehemann und dem gemeinsamen volljährigen Sohn bewohnt. Kündigungsgrund war ein erhebliches mehrfaches Fehlverhalten des Sohnes. Das Urteil wurde durch das Landgericht bestätigt.
Ein Suizidversuch der Mieterin nach Ankündigung der Zwangsräumung führte zu ihrer stationären Aufnahme in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses.
Die Parteien streiten um die Fortsetzung der einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung. Das Amtsgericht hat die Vollstreckung auf Grund Suizidgefahr einstweilen eingestellt mit der Auflage, alles Zumutbare zu unternehmen um die Gefahr einer Suizidalität der Beschwerdeführerin möglichst auszuschließen und eine Ersatzwohnung zu finden. Der Anwalt der Mieterin beantragte unter Berufung auf ein nunmehr vorliegendes Attest einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, die einstweilige Einstellung der Vollstreckung zu verlängern. Das Amtsgericht wies den Antrag zurück.
Der Anwalt legte nunmehr sofortige Beschwerde ein und beantragte die Begutachtung der Beschwerdeführerin durch einen (internistischen) Facharzt. Hierbei legte er einen zwei Monate nach der Gewährung der einstweiligen Einstellung der Vollstreckung den Entlassungsbericht des Krankenhauses vor. Darin ist insbesondere aufgeführt, dass keine Hinweise auf eine akute Suizidalität der Beschwerdeführerin bestünden und die Beschwerdeführerin in psychopathologisch teilgebessertem Zustand entlassen werde. Ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie vom erklärte, dass die Mieterin mittlerweile so schwach und ängstlich sei, dass sie ihr Haus nicht mehr verlassen könne. In dieser Verfassung sei sie nicht in der Lage, sich um eine Wohnung zu kümmern. Eine Besserung in absehbarer Zeit sei vorerst nicht zu erwarten. Die Beschwerdeführerin habe wiederholt den Wunsch geäußert zu sterben. Die weitere Prognose sei negativ zu bewerten. Aus psychiatrischer Sicht könne nur erneut für den Verbleib in der bisherigen Wohnung plädiert werden, sofern die Familie der Beschwerdeführerin keine umfassende Unterstützung bei der Wohnungssuche erhalte.
Das Landgericht München verwehrte die Verlängerung des Räumungsschutzes. Die Beschwerdeführerin berufe sich ohne Erfolg auf ihren Gesundheitszustand.
Ehemann und Sohn bewohnen die Wohnung ebenfalls, gehen aber nicht gegen die drohende Räumung vor.
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde
Gegen die Entscheidung des Landgerichts wendet sich die Mieterin mit einer Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Das Gericht sieht die Klägerin in ihrem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt, da das Landgericht trotz substantiierten Vortrags neuer Fakten und entsprechenden Antrags eine erneute Begutachtung der Mieterin unterlassen habe.
Drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren
Die Mieterin hat für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihr drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht. Die Gerichte haben daher bei fehlender eigener Sachkunde − zur Achtung der verfassungsrechtlich verbürgten Rechtspositionen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann. Eine Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein. Die Vollstreckung kann auch aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründen oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne des § 765a ZPO darstellen.
Die Mieterin hat vor dem Landgericht substantiiert ihr drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend gemacht. Im vorgelegten Entlassungsbericht des Krankenhauses wird zwar eine akute Suizidalität der Mieterin verneint. Im ebenfalls vorgelegten Befundbericht des behandelnden Facharztes für Psychiatrie wird jedoch ausgeführt, dass die Mieterin mittlerweile so schwach und ängstlich sei, dass sie ihr Haus nicht mehr verlassen könne. Eine Besserung in absehbarer Zeit sei nicht zu erwarten. Die Mieterin habe wiederholt den Wunsch geäußert zu sterben; die weitere Prognose sei negativ zu bewerten. Aus psychiatrischer Sicht könne nur erneut für den Verbleib in der bisherigen Wohnung plädiert werden, sofern die Familie der Mieterin keine umfassende Unterstützung bei der Wohnungssuche erhalte. Dieser Befund des behandelnden Facharztes hätte für das Landgericht, insbesondere in Anbetracht des nur wenige Monate zuvor erfolgten Suizidversuchs, Anlass geben müssen, weitere Sachaufklärung im Hinblick auf den Gesundheitszustand und die mit einer Räumung verbundenen gesundheitlichen Folgen zu betreiben.
Erneute Begutachtung bei veränderter Sachlage
Die Vollstreckungsgerichte haben einen großzügigen Maßstab anzulegen bei der Beurteilung, ob sich eine Sachlage so geändert hat, dass eine Aufhebung oder Änderung der im vorangegangenen Vollstreckungsschutzverfahren getroffenen Entscheidung geboten ist. Daher ist eine solche Änderung der Sachlage etwa auch dann anzunehmen, wenn der Mieter zwar ein und dieselbe Krankheit als Vollstreckungshindernis bezeichnet, diese jedoch einen Verlauf genommen hat, welcher bei der vorangegangenen Antragstellung und seiner Bescheidung nicht hat vorhergesehen werden können.
Gemessen an diesen Maßstäben ging das Bundesverfassungsgericht vorliegend von einer Veränderung der Sachlage im Sinne des § 765a Abs. 4 ZPO aus. Das Amtsgericht hatte in seinem Beschluss, mit dem es die Zwangsvollstreckung zunächst für drei Monate einstweilen eingestellt hatte, diese hinter dem Antrag zurückbleibende Befristung insbesondere damit begründet, es könne von der Mieterin und ihren Familienangehörigen erwartet werden, dass sie innerhalb der Frist alles Zumutbare unternähmen, um die Gefahren der Suizidalität auszuschließen. Das Amtsgericht ist mithin davon ausgegangen, dass nach Ablauf der drei Monate keine wesentlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen bei der Beschwerdeführerin mehr vorlägen. Dieser Prognose steht aber der deutlich nach der genannten Entscheidung verfasste psychiatrische Befundbericht entgegen, den die Mieterin vor dem Landgericht vorgelegt hat und in dem ihre aktuelle (psychiatrische und sonstige) gesundheitliche Situation ausführlich geschildert wird. Damit liegt in Anbetracht der angeführten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ein tauglicher Anknüpfungspunkt für eine Neubewertung der Sachlage im Sinne von § 765a Abs. 4 ZPO vor.
Räumungsverpflichtung von Ehemann und Sohn unbeachtlich
Soweit die Vermieterin im Übrigen in ihrer Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde ausgeführt hat, das Landgericht sei auch zu Recht davon ausgegangen, dass der aktuelle gesundheitliche Zustand der Beschwerdeführerin als solcher ohnehin unbeachtlich sei, da neben der Beschwerdeführerin auch ihr Ehemann und der gemeinsame Sohn zur Räumung verpflichtet seien und nicht ersichtlich sei, dass diese nicht in der Lage wären, eine Ersatzwohnung zu suchen, ist dies unzutreffend. Das Landgericht hat in der angegriffenen Entscheidung vielmehr – nach der Verneinung einer im Falle einer Räumung drohenden schwerwiegenden Gesundheitsgefahr – die geltend gemachte Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Wohnungssuche erst als weiteren Gesichtspunkt im Hinblick darauf geprüft, ob diese für sich genommen eine Einstellung der Zwangsvollstreckung rechtfertigt. Im Falle der Bejahung einer berücksichtigungsfähigen Gesundheitsgefahr wäre das Landgericht somit aus seiner Sicht zu dieser Erwägung nicht mehr gelangt.